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„Barmherzigkeit ist weder
blinde Toleranz
noch Rechtfertigung der Sünde
noch ein Recht“
Kardinal Piacenza
zum „Jahr der Barmherzigkeit“
„Barmherzigkeit ist weder blinde Toleranz noch Rechtfertigung der Sünde“, eine solche Feststellung des Kardinalgroßpönitentiars der katholischen Kirche klingt zumindest ungewöhnlich in einer Zeit, in der mehr von einer „Kirche der Zärtlichkeit“ die Rede ist. Kardinal Mauro Piacenza war unter Papst Benedikt XVI. Präfekt der Kleruskongregation gewesen und hatte dessen Versuch, den heiligen Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, zum Modell für die Priester des neuen Jahrtausends zu machen, unterstützt. Ein Versuch, der an den heftigen innerkirchlichen Widerständen scheiterte. 2013 bestätigte Papst Franziskus den Kardinal nicht in seinem Amt, sondern ernannte ihn zum Großpönitentiar. Der Nachrichtendienst Zenit führte ein Gespräch mit Kardinal Piacenza zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit, dessen erster Teil heute veröffentlicht wurde. Das Gespräch führte Antonio Gaspari. Die Übersetzung folgt nicht jener der deutschen Ausgabe von Zenit, sondern wurde eigenständig angefertigt.
Worum handelt es sich bei dem Jubeljahr? Wie unterscheidet es sich von jenem, das von den jüdischen Gemeinschaften in alten Zeiten gefeiert wurde? Aus welchem Grund hat Papst Franziskus das außerordentliche heilige Jahr ausgerufen? Worin besteht die Barmherzigkeit? Um eine Antwort auf diese und andere Fragen zu erhalten, führte ZENIT ein Interview mit Kardinal Mauro Piacenza, dem Großpönitentiar beim Gnadengerichtshof, der Apostolischen Pönitentiarie.
Das von Papst Franziskus ausgerufene große außerordentliche Jubiläum steht nunmehr unmittelbar bevor. Erklären Sie uns bitte, worin das Jubeljahr besteht.
Kardinal Piacenza: Es handelt sich um eine „apokalyptische“ Zeit im etymologischen Sinne des Begriffes, und zwar um eine Zeit der „Offenbarung“ der wahren Wirklichkeit, der neuen Bedeutung und des neuen Werts, die das Christentum dem menschlichen Leben in der „gegenwärtigen Zeit“ gibt.
In der jüdischen Antike bestand das Jubiläum in einem alle 50 Jahre begangenen Jahr, das vom Klang eines Widderhorns – auf hebräisch yobel – eröffnet wurde. Während dieses Jahres erwartete man diese „Neuheit“ des Lebens mit symbolischen und konkreten Gesten wie dem Ruhen der Erde, der Rückgabe der beschlagnahmten Grundstücke und der Befreiung der Sklaven. Erst im Christentum aber finden diese Ruhe, diese Versöhnung und diese Befreiung ihre volle und endgültige Verwirklichung! Das Christentum, d.h. der Eintritt Christi in die Welt und die Geschichte, die Annahme unseres armen Menschseins durch den Sohn Gottes, verleiht der Zeit einen neuen Wert, einen unendlichen Wert! Jeder Augenblick, seitdem Gott Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist, ist eine „Gelegenheit“ zur Beziehung mit Ihm geworden, zur lebendigen und belebenden Begegnung mit Ihm, und zur Hingabe des eigenen Lebens an Ihn. Das Jubeljahr ist daher ein Jahr, in dem unsere Zeit, im chronologischen Sinn verstanden, gleichsam von einer anderen Maßeinheit „absorbiert“ wird, jener der Gnade. Im Jubeljahr bemüht sich die Kirche, als liebende Mutter, die „Gelegenheiten der Gnade“ zu vervielfachen, vor allem was die Vergebung der Sünden durch das Beichtsakrament betrifft! Um diesen Eintritt in eine Zeit der besonderen Gnade zu versinnbildlichen, wird der Ritus zum Beginn des Jubiläums vollzogen: die Öffnung der Heiligen Pforte.
Das Jubeljahr wird am kommenden 8. Dezember, dem Hochfest der Unbefleckten Empfängnis beginnen. Warum wurde dieses Datum gewählt?
Kardinal Piacenza: Der Papst wollte dieses Datum, um einen für die jüngste Kirchengeschichte besonders bedeutsamen Jahrestag zu begehen: den Abschluß des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils. Zahlreich sind die Früchte der Gnade, die der Herr durch die jüngste Konzilsversammlung geschenkt hat – man denke nur beispielsweise an den machtvollen Ruf zur Heiligkeit für alle Getauften und die große Blüte der kirchlichen Bewegungen –, doch viele Schätze sind noch in den Texten verborgen und warten darauf, angemessen studiert, verstanden und umgesetzt zu werden im Leben der Kirche. Im Grunde sind vor allem die Pontifikate des heiligen Johannes Paul II., des emeritierten Heiligen Vaters Benedikt XVI. und von Papst Franziskus von dieser Förderung der korrekten Aufnahme der Konzilstexte durchzogen. Zudem ruft dieses „marianische“ Datum des Jubiläumsbeginns uns alle, die Augen und das Herz auf die Unbefleckte, Mutter und Vorbild der Kirche und Vorerlöste, das heißt, erlöst im Blick auf die künftigen Verdienste Christi seit ihrer Empfängnis, zu richten. Wir wissen, daß die gesamte Kirche und in ihr unser eigenes Leben, in ihren Händen sind, unter ihrem Schutz und von ihrer „bittenden Allmacht“ erwarten wir alle heute am nötigsten Gnadengaben, um Christus, dem einzigen, wahren Herrn des Kosmos und der Geschichte, zu dienen.
Papst Franziskus widmete dieses Jubeljahr dem Thema der Barmherzigkeit. Was hat man sich unter diesem Begriff vorzustellen und worum handelt es sich hingegen nicht?
Kardinal Piacenza: Beginnen wir wie der hl. Thomas, indem wir sagen, was die Barmherzigkeit „nicht ist“. Barmherzigkeit ist weder blinde Toleranz noch Rechtfertigung der Sünde und schon gar nicht ein Recht.
Die Barmherzigkeit ist nicht „Toleranz“, weil sie sich nicht darauf beschränkt, den Sünder zu „ertragen“ und ihn weiter sündigen zu lassen, sondern die Sünde offen verurteilt und genau auf diese Weise den Sünder liebt: Sie erkennt, daß er nicht aus seiner Sünde besteht, sondern mehr ist; sie bringt seine Handlungen an das Licht der Wahrheit, der ganzen Wahrheit, und bietet ihm, auf diese Weise, das Heil an.
Die Barmherzigkeit rechtfertigt zudem nicht die Sünde unter Verweis auf welche soziokulturellen, wirtschaftspolitischen oder persönlichen Umständen auch immer. Sie schätzt den Menschen vielmehr so sehr, daß sie von ihm Rechenschaft für jede seiner Handlungen verlangt und ihn so als „verantwortlich“ vor Gott anerkennt.
Und schließlich ist die Barmherzigkeit kein Recht, es gibt keinen Anspruch darauf, nur weil man existiert. Anders ist es bei Rechten: sie stehen dem Menschen zu, allein schon weil er existiert. Die Barmherzigkeit hingegen kann nicht eingefordert werden, weder gegenüber Gott noch gegenüber der Kirche, der Dienerin der göttlichen Barmherzigkeit.
Kommen wir nun zu dem, was die Barmherzigkeit wirklich ist. Die Barmherzigkeit ist vor allem eine lebendige und wirkliche, unveränderliche und immerwährende Realität, die dem menschlichen Elend entgegenkommt aufgrund eines Geheimnisses absoluter göttlicher Freiheit und dieses menschliche Elend „rettet“, nicht indem sie es auslöscht oder ignoriert und auch nicht indem sie es vergißt, sondern sie sich seiner „persönlich“ annimmt. Wenn der Leichnam Christi bei den wunderbaren Feierlichkeiten der Karwoche, die im Süden Spaniens und an vielen anderen Orten stattfinden, wo die Volksfrömmigkeit lebendig ist, in Prozession aus der Kirche getragen wird, erhebt sich aus dem im Gebet vereinten Volk oft eine bewegte und von tiefstem Mitleid erfüllte Stimme, die ruft: „Die Barmherzigkeit!“ Genau so ist es, die Barmherzigkeit ist eine Person, sie ist Christus! Der fleischgewordene, gestorbene und auferstandene Christus. Er will mit jedem Menschen eine persönliche Beziehung der Wahrheit und der Liebe aufbauen. Und das alles nennt sich aus unserer Perspektive der armen, erstaunten und verwunderten Sünder: „Barmherzigkeit“.
Wo können die Menschen heute die Barmherzigkeit finden? Gibt es eine Grenze für die göttliche Barmherzigkeit? Gibt es so schwere Sünden, daß sie nicht vergeben werden können?
Kardinal Piacenza: Diese Barmherzigkeit findet sich mit Gewißheit dort, wo Christus selbst dem Menschen begegnen wollte: im eigenen Fleisch! Dieses Fleisch Christi, auferstanden und lebendig, ist auf geheimnisvolle Weise verlängert, durch die Kraft des Heiligen Geistes, in der Kirche, die Sein mystischer Leib ist. In der Kirche erwartet die Barmherzigkeit die Sünder durch jene von Christus selbst auserwählten, gerufenen und zu Amtsträgern gemachten Männer und geht ihnen persönlich in den Sakramenten entgegen, besonders in denen der Versöhnung und der Eucharistie. Alle Sakramente – und die Kirche selbst – sind das Werk der Barmherzigkeit Christi, da Er durch sie nicht nur die Sünde „beseitigt“, sondern die Sünder in eine unverdiente und undenkbare Lebensfülle zieht, sodaß sie zusammen mit Ihm und „in“ Ihm, Kinder Gottes werden. Das geschieht vor allem durch die Taufe. Die orthodoxen Brüder würden sagen, daß der Mensch von Christus „vergöttlicht“ wird. Das Sakrament der Versöhnung erneuert dann die Gabe unserer Taufe, indem sie beseitigt, was dem widerspricht oder das sich widersetzt: die Sünde. Diese göttliche Barmherzigkeit, die Christus ist, ist grenzenlos wie Seine Liebe, die dieselbe Liebe des Vaters ist. Und dennoch kennt sie eine Grenze, eine einzige, die jener Grenze entspricht, die Gott selbst Seiner Allmacht gesetzt hat: die Freiheit des Menschen. Wenn der Mensch die Barmherzigkeit, die Gott ihm anbietet, annimmt und sich ihr nicht öffnet, sondern sie mit seinen Entscheidungen und seinen konkreten Handlungen zurückweist, zwingt sie ihm Gott nicht auf. Mit göttlicher, unermüdlicher Geduld – wiederholt uns Papst Franziskus – wartet Er, daß der Mensch sich auf seinem Weg der irdischen Wanderschaft bekehrt, und bietet alle notwendigen Gnaden, damit dies geschieht.
Und wenn diese irdische Wanderschaft endet, was geschieht dann?
Kardinal Piacenza: Wenn der fundamentale und heilige – heute oft vergessene – Moment des „Übergangs“ kommt, öffnet sich für den Menschen das sogenannte besondere Gericht: Die Seele vorläufig ihres Körpers entblößt, findet sich vor dem Angesicht Christi, dem gerechten Richter und Erlöser, der sie nicht aufgrund ihrer subjektiven Überzeugungen und auch nicht aufgrund der Umstände, unter denen sie gelebt hat, bewertet, sondern gemäß ihren Werken, gemäß der letztlichen Absicht, die das Herz den Werken zugesprochen hat. Der Übergang ist letztlich nichts anderes – und so auch das ewige Schicksal – als eine plötzliche „Ausweitung“, wir könnten sagen, eine „Verewigung“ unseres letzten „gegenwärtigen Augenblicks“, der, vom Ablauf der Zeit entblößt, sich vor dem Licht und der Wahrheit Christi befindet, in jener „inneren Haltung“, die in uns auf Erden gereift ist. Integraler Bestandteil der von Christus gerichteten Werke ist es natürlich, um Barmherzigkeit für die eigenen Sünden gebeten und sie erhalten zu haben, daß wir selbst gegenüber unserem Nächsten barmherzig waren und dies im Gebet bewahrt zu haben.
Das besondere Gericht, dem am Ende der Zeiten das Weltgericht und die Auferstehung des Fleisches folgen wird, überführt sofort – könnten wir sagen – die Seele in seine Letztbestimmung: einerseits haben wir entweder das ewige Heil, das uns sofort zusammen mit allen Heiligen in der seligmachenden Schauung Gottes im Himmel sieht, oder wir müssen durch das reinigende Feuer des Fegefeuers, oder andererseits – Gott möge es verhindern! – die ewige Verdammnis, die wir Hölle nennen.
Die Realität des Fegefeuers scheint heute in vielen Teilen der Verkündigung besonders vergessen zu sein. Halten Sie es noch für aktuell, darüber zu sprechen? Was kann es dem Menschen von heute sagen?
Kardinal Piacenza: Daß nichts, was unsere Person betrifft, in den Augen Gottes ohne Bedeutung ist. Die immer aktuelle, weil immer wahre Realität des Fegefeuers bekräftigt, daß Gott eine so unendliche „Wertschätzung“ für die menschliche Kreatur hat und unsere geschaffene Freiheit so „schrecklich“ ernst nimmt, daß Er ihr – wie wir sagen könnten – „gehorcht“. Er will, lesen wir im Buch Ezechiel, nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehrt und lebt (vgl. Ez 33,11). Doch, obwohl Gott dem Menschen nur das Leben schenken will, hat Er beschlossen dessen Freiheit in solchem Maß zu respektieren, daß Er ihm erlaubt, sich auch dafür zu entscheiden, Seine Liebe definitiv „zurückzuweisen“ oder Ihn in dem Maß dem er zustimmt, anzunehmen, immer in seiner Freiheit, das sich in den Werken zeigt. Wenn diese „letzte Öffnung“ des Herzens noch nicht vollständig sein sollte, aber eindeutig auf die Wahrheit Gottes ausgerichtet, dann bräuchte die Seele eine letzte „Umwandlung“, eine Vorbereitung auf die Schauung Gottes durch die lebendige Flamme Seiner Liebe, wie die Abhandlung der großen Heiligen und Theologin des Fegefeuers, Katharina von Genua erklärt, und wie der emeritierte Heilige Vater in seiner zweiten Enzyklika Spe Salvi gelehrt hat (vgl. Spe Salvi, 48). Für jene, die im Purgatorium sind, gibt es, da die Zeit der Freiheit abgelaufen ist, keine Möglichkeit mehr, zu „verdienen“, das heißt aus freien Stücken mit der Gnade Christi zusammenzuwirken. Diese Brüder können diese Gnade nur „empfangen“, die durch das Gebet der Kirche, durch das sogenannte „Fürbittgebet“ erhalten wird, das vor allem in der Darbringung des eucharistischen Opfers besteht, in den Werken der Barmherzigkeit und den Almosen. Die Handelnden in diesem Gebet sind vor allem die Allerseligste Gottesmutter Maria, das perfekte Abbild der Kirche und Ausspenderin aller Gnaden, und dann wir, die wir durch die Taufe in Gemeinschaft mit den Gläubigen aller Zeiten leben.
Also ist auch die Fürbitte eine Form von Barmherzigkeit? Wer kann daraus Nutzen ziehen?
Gewiß ist die Fürbitte ein unersetzliches Werk der Barmherzigkeit! Es ist vor allem und immer in der Barmherzigkeit Christi verwurzelt, der allein das Herz des Menschen retten und reinigen kann, der aber in Seiner Güte, uns an Seinem Heilswerk teilhaben läßt, indem er uns so zu „Mitwirkenden“ werden läßt. Gerade in dieser Mitarbeit, in diesem Teilhaben am Werk Christi ist der erste herausragende Gewinn: Wir werden dem Herrn gleichgestaltet, erhalten mehr Anteil an Seinem Denken und Seinen Gefühlen. Dann zieht unser Glauben Nutzen daraus, weil er sich vermehrt auf die unsichtbare Wirklichkeit ausweitet und sich dadurch festigt. Und schließlich ziehen die Seelen im Fegefeuer sicheren Nutzen daraus, die „Erleichterung“ aus unserer Fürbitte erlangen, bis zu ihrer endgültigen Befreiung. Dieses Werk ist so groß und so unerläßlich, daß die Kirche es in commemoratione omnium fidelium defunctorum, zu Allerseelen am kommenden 2. November, mit der Gabe eines vollkommenen Ablasses bereichert, dem Nachlaß also aller zeitlichen Strafen, die sich aus der Sünde ergeben, und die die Seele im Fegefeuer „festhalten“. Es wird zu diesem Anlaß möglich sein, unter den üblichen Bedingungen den Ablaß für die armen Seelen im Fegefeuer zu gewinnen: sakramentale Beichte in den acht Tagen vorher oder nachher, der Empfang der heiligen Kommunion, das Gebet in der Meinung des Papstes, die Abkehr von jeder Sünde, auch der läßlichen Sünden, und der Besuch des Friedhofs vom 1.-
Text: Zenit.org (Italienische Ausgabe)
Übersetzung: Giuseppe Nardi